Die Erinnerung ist eine ernste Frage – Auschwitz spricht noch (?)

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Livia Corbelli

Livia Corbelli

„In Auschwitz gab es Schnee“ [1] heißt es in dem bekannten italienischen Lied von Guccini, aber ich befinde mich an einem sonnigen Tag in Auschwitz, während die Vögel, naiv oder gleichgültig, singen.

Ich habe die blühenden Bäume gesehen und die grünen Wiesen um die nummerierten Blöcke. Das diffuse Licht erlaubte es kaum, sich auf den Zynismus von „Arbeit macht frei“ am Eingang zu fokussieren. Konnte der Tod an diesem Ort herrschen? Dennoch waren alle Indizien präsent und der Stacheldraht unterstrich überall die Grenze zwischen dem Verlauf des Lebens und der Trägheit des Todes, die beängstigende Spur der UnterExistenz.

Ich habe gesehen, was geblieben ist. Ein greifbares Zeichen des Unbeschreiblichen. Es gab Berge an Utensilien: Niemand hätte auch nur eines davon genutzt; auch keinen Löffel, um damit die Suppe abzuschmecken. Die Suppe in Auschwitz bestand aus salzigem Wasser und Hobelspänen. Fremde Hände, nicht die der Familie, haben die Suppe ausgegeben. Es gab Berge an Koffern, alle gut etikettiert, um sie identifizieren zu können und um sicher zu sein, dass man seine Sachen bei der Ankunft wiederfindet. Kein Koffer wäre zur Aufbewahrung gegeben worden und der mühsam ausgesuchte Inhalt, um nicht die Anzahl der zuvor festgelegten Gepäckstücke zu überschreiten, hätte sofort den gesamten Wert verloren. Es gab auch Berge an Schuhen – sehr kleine, kleine, mittlere und große, für Damen und für Herren, in allen Farben: Keiner von ihnen wäre getragen worden, keiner von ihnen hätte das paradoxale Privileg genossen, gerissen, zu stark benutzt zu sein oder beiseite gelegt zu werden, weil sie unbequem sind. Ich habe verstanden, dass das Unbeschreibliche in Worte gefasst werden kann, wenn man es schafft, eine angebrachte Ausdruckweise zu finden. Keine Versüßungen, keine Verherrlichung: Hier ist die Geschichte bitter-giftig und über Auschwitz sind nur Fakten zu erzählen. Schmerz und Leid können ins Gedächtnis gerufen, dennoch niemals voll und ganz ausgedrückt werden, aber genau dies sickert durch die Ziegelsteine der Mauern in Auschwitz. Ein Minimum an Empathie, das uns zum Menschen macht, ist ausreichend, um zu bemerken, wie sich der Magen zusammenzieht, als Opfer des Stacheldrahtes mit dem „ausgeschlossenen Blick“ [2] aber ohne das Poetische von Leopardi.

Es entfaltet sich keine Unendlichkeit in Auschwitz. Was existiert, ist die furchtbare Immanenz, ein Mosaik der Epidemien, erdrückende Gefängnisse, Hunger, Ratten, Gas, Versuche, die Exekutionswand, ausgestattet mit Haken, da zu sterben nicht genug ist: man muss während dem Sterben um das Ende bitten, es sich fast wünschen.

Plötzlich verliert die Sonne an Charme, sie wird drückend, schonungslos, sadistisch. Ich habe den Eindruck, die Risse und Erniedrigung in den Gesichtern zu sehen, die an der Wand aufgehängt sind. Das Gewicht von 7 Tonnen Frauenhaar. Ich habe das Gefühl, dies nun umgekehrt an mir zu spüren, ohne Möglichkeit der Flucht. Ich verliere meine Haare, ich verliere meine Eitelkeit, meine Sicherheit, meine Identität, meine Essenz: Mit einem Mal bin ich die Gesamtheit der Frauen und wenn ich nicht weine, dann nur deswegen, weil die Führung in einem anderen Raum weitergeht.

Sich in einem Raum zu befinden, in welchem so rational gedacht, welcher derart genutzt wurde, und sich dabei bewusst zu sein, was er bedeutet hat, lässt in mir ein Schuldgefühl entstehen, das ich so noch nie zuvor empfunden habe: Schuldig, nicht dort gewesen zu sein, nicht die Gelegenheit gehabt zu haben, all dies zu verhindern und dafür heute lebendig und frei zu sein. Diese Schuldgefühle überschreiten die Grenzen des Raumes, der Zeit und der Generationen: Ich fühle mich verantwortlich. Aber gleichzeitig erkenne ich die „Leichtigkeit“, mit welcher eine solche Empfindung aus der Ferne der Zeit emporschießen kann, wenn auch die Situation überholt zu sein scheint. Es ist schwieriger sich der Geschichte zu stellen, die sich vor unseren Augen abspielt und zu welcher ich auch gehöre.

Trotz einer anderen Art und Weise, ist die Geschichte dabei, erneut die Schemata der Vergangenheit aufzugreifen – Wirtschaftskrise, soziale und moralische Abnahme, Tendenz zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit, Segregation von Minderheiten, Mangel der (inter)nationalen Einheit, Populismus und dessen kommunikative Kraft, welche die Massen entflammt, mehr oder weniger verschleierte Diktaturen, die sich stabilisieren – und trotzdem scheint man nichts daraus gelernt zu haben. Reisende in einem Meer aus Wolken [3], man geht nicht, um die Höhe wieder zu erreichen, aber um Gewissheit zu finden und man klammert sich an den ersten Schatten, den man erkennt, ohne exakt zu wissen, worum es sich handelt.

In Bezug auf den 27. Januar, um daran zu erinnern und diese Erinnerungen der Vergangenheit zu bewahren, darf dies nicht eine Handlung der Gutmütigkeit für die Verstorbenen sein, und ebenso wenig eine reine Doktrin, aber ein kritisches Gewissen bezüglich des Wiedererkennens. Zum Beispiel „Charon, mit Augen, die wie Kohlen glommen“ [4], der wieder zurückgekehrt ist, um mit den Boten die Seelen an einen anderen Ort zu bringen, denn die Hölle hat irdische Eigenschaften und in diesem Rhythmus werden alle, die wir in Sicherheit in unseren warmen Häusern wohnen [5], nicht mehr die Blicke unserer Kinder genießen können.

Dadurch, dass es keine identische Art und Weise gibt, kann sich die gleiche Dynamik erneut bilden und man muss eine Antwort auf die Fragen finden, welche hervorgerufen werden. Es ist wichtig, sich bereit zu zeigen. In einem Moment, in welchem die Gefühle von Ungewissheit, Zorn und Angst alles leiten, wo Zweifel und kritische Reflexion nebensächlich erscheinen, wo das Bild und das Werkzeug sofort die wahre Macht haben, gibt es zahlreiche Herausforderungen in allen Lagern. Es ist notwendig, sich zu fragen, welche und wie viele Grenzen man errichten müsste, wenn sie wirklich absolut notwendig sind.

Genauer gesagt: Was ist Europa und worauf nimmt man Bezug? Bis dahin, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.

Livia Corbelli


„Dieser Ort sei allzeit ein Aufschrei der Verzweiflung und Mahnung an die Menschheit. Hier ermordeten die Nazis über anderthalb Millionen Männer, Frauen und Kinder. Die meisten waren Juden aus verschiedenen Ländern Europas. Auschwitz – Birkenau, 1940-1945“

[1] La canzone del bambino nel vento (Auschwitz) – F. Guccini

[2] L’infinito – G. Leopardi

[3] Caspar David Friedrich

[4] Commedia – Dante Alighieri (Inferno, Canto III, vv. 109)

[5] Se questo è un uomo – P. Levi

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