Liebe als Bewunderung und Sehnsucht: Villers-la-Ville und belgische Züge

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Alessio Vagaggini

Alessio Vagaggini

Weiße Wolken, welche seit einigen Tagen Wallonien bedecken, lassen ein paar Sonnenstrahlen durchscheinen: Gelegenheit macht Diebe. Für einen Tag können die Bücher auf die Seite gelegt werden und Platz für das Leben machen.

Die Reise von Louvain-la-Neuve zu meinem Ziel ist beschwerlicher als gedacht. Die Stadt ist nur ein paar Kilometer entfernt, aber wegen der Umstiege dauert es länger als eine halbe Stunde. Die Regionalbahn fährt langsam, durch alle kleinen Dörfer in Wallonien, und scheint müde geworden zu sein, stetig die niemals endende Route bis ans Ende ihrer Tage zu wiederholen.

Wann immer du denkst, dein Leben sei langweilig, denk bitte an die Regionalbahnen im Königreich Belgien.

Villers-la-Ville blendet dich mit seiner Magie. Während der Zug daran vorbei fährt, erscheint vor deinen Augen eine Abtei. Erstaunt versuchst du sie, im Geiste zu konkretisieren, zu begreifen, zu begehren und zu lieben. Aber das Schicksal ist träge und der Moment, in dem du sie siehst, endet mit einem Wimpernschlag. Der Zug macht dir dieses Geschenk nur für einen Moment und rast weiter, ungerührt, und lässt dich etwas weiter an der Station aussteigen.

Maschinen folgen den Regeln der Mechanik, nicht denen des Herzens.

Der Weg vom Bahnhof bis zum Kloster dauert etwa eine halbe Stunde. Die Ungeduld wächst, der Wille, das geliebte Gesicht wieder zu sehen, das unfassbare Verlangen, die gleichen Gefühle zumindest ein zweites Mal in deinem Leben zu spüren. Für gewöhnlich werden Bestrebungen dieser Art in die Dimension des Unmöglichen abgeschoben. Die Welt der Träume, ausgeklammert durch eine Welt, die den Konsum fordert. Es passiert fast nie, aber wenn dein Blick Villers-la-Ville entdeckt, revolutionieren sich deine inneren Regeln.

Das Geräusch der Mühle, die Frische der Luft, das Gestein.

Ich war bereits in drei verschiedenen Jahreszeiten in Villers-la-Ville, jedes Mal mit anderen Menschen, jedes Mal hatte ich andere Gefühle. Farbenfrohe Blätter des Herbstes machen Platz für die typische Festigkeit des Winters, wohingegen im Frühling fröhlich Gruppen von Vögeln magische Wege zwischen den Fenstern und Wänden der Abtei bilden, unbesorgt über die Probleme der Menschen.

Stille, Geist, Erde.

Leise laufe ich durch die Ruinen in der Hoffnung, in den Erinnerungen zu schwelgen, was einst in dem Tempel war. Ich mache keinen Lärm aber ich liebe diese Steine, die man unmöglich mit einem Blick festhalten kann und welche dafür so attraktiv sind. Ich gehe und währenddessen rufe ich in mir mehrere Welten herbei. Die Leben, die ich nie gelebt habe, und die, die ich leben werde. Die Küsse, die ich vergeben habe, und die Hoffnungen, die ich vorhersehe, in einem undefinierten Punkt in meinem Leben. Die Stille an diesem Tag ist das Gegenteil zur Aufregung in der Stadt. Manchmal muss man sich verlieren, um sich wiederzufinden.

Als ich unter die Kuppel komme, blicke ich hinter mich; die enorme Ruine teilt den Himmel, zur einen Hälfte gemalt in hellem Blau, zur anderen Hälfte bedeckt durch bedrohliche Wolken. Geboren, um auf dem Boden zu bleiben, fühlt das Gestein den Absolutismus der Sterne und zielt auf diese ab: vielleicht steckt darin ein romantischer Geist, vielleicht ist es immer noch betrunken von dem Bier, das einst hier gebraut wurde, das Aroma, welches immer noch in der Luft schwebt. Als würde Stille das Feuer der Hoffnung entfachen, als würde das nachdenkliche Wesen den Auslöser aktivieren, seine irdische Seite zu offenbaren, brennend für die Leidenschaft.

Vor Jahrhunderten lebten Narziß und Goldmund in einem ähnlichen Kloster. Der Asket und der Vagabund, die uns lehrten, wie wenig es wert ist, das Leben auf zwei gegensätzliche Pole, in Askese oder Sinnlichkeit, zu reduzieren. Das Leben ist nicht nur ein Ja oder Nein, es ist nicht so leicht, zu lieben ohne zu leiden. Die Synthese dieser beiden Perspektiven mach den menschlichen Geist weise aber auch beschwingt durch Leidenschaft: blicke achtsam auf die Sonnenuntergänge über der Abtei von Villers-la-Ville und du wirst sehen, wie das Apollinische und das Dionysische sich umarmen, in einer Abfolge gegensätzlicher Emotionen. Du kannst nicht auf der Brust einer Mutter schlafen, wenn du nicht gelernt hast, in der Wüste wach zu bleiben.

Ich, als Stein, ich bin beides: romantisch und berauscht von dieser Schönheit. Ich habe gerade meine Liebe zu diesen Steinen gestanden und der arme Zug kommt zurück, noch ermüdeter, seinen täglichen Weg zu Ende zu bringen und mich nach Hause zu fahren. Der Zug wiegt mich in seiner Bewegung; müde von diesem Tag, bin ich stolz darauf, meine Gedanken zu teilen.

Falls ihr zum Spaß verreist, falls ihr aus geschäftlichen Gründen nach Brüssel verreist, falls ihr in Belgien lebt oder euren Erasmus-Aufenthalt in der Nähe verbringt, besucht die Abtei von Villers-la-Ville.

Geht dorthin und vergiss es nie wieder. Behaltet es für die Ewigkeit. Träumt.

Für die, die Unendlichkeit suchen genügt es, die Augen zu schließen.

Alessio Vagaggini


Bibliografie:

Herman Hesse, Narziß und Goldmund, Oscar Mondadori, 1978

Abbaye de Villers-la-Ville, Rue de l’Abbaye 55, 1495 Villers-la-Ville, Belgique

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