Migration und Flüchtlinge: Widersprüche in der Europäischen Union

Die Migration ist eines der großen ungeklärten Themen in der EU. Das Vorgehen der EU ist nicht immer mit ihren Grundsätzen im Einklang.

Der 20. Juni ist der Weltflüchtlingstag, der ursprünglich von den Vereinten Nationen eingeführt wurde, um an die Genfer Konvention von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge zu erinnern. Zwischen den Nachrichtenberichten und den offiziellen Reden der Politiker zum Thema, stieß ich zufällig auf das Gedicht “Nota di Geografia” von Erri De Luca, das ich nicht kannte, das mich aber sofort beeindruckte, insbesondere dieser Abschnitt:

“weniger Leben berühren Italien als die, die an Bord kamen (…) und doch ist Italien ein offenes Wort, voller Luft”.

 

Es sind nur wenige Zeilen, aber sie sind so intensiv und bedeutungsvoll, dass sie mich unbewusst zu einer bittersüßen Reflexion über das Konzept des Empfangs an sich geführt haben. Wir leben in einer Zeit der Migration, in der jede Migration eine Geschichte für sich ist, denn sie hat ihren Ursprung in Kriegen und Verfolgung, wachsender sozialer Ungleichheit, der Suche nach Arbeit, der Wiedervereinigung von Familien, Studium und Forschung. Nach den Worten des Anthropologen Giulio Angioni ist der Mensch ein “Wandertier”, und als solches ist die Neigung zur Mobilität eine der wichtigsten Konstanten der Menschheit im Laufe der Jahrtausende, von den großen Imperien der Vergangenheit bis zur modernen Globalisierung. Die Reise hat dazu beigetragen, dass sich auch entfernte Kulturen begegnen, sich kennen lernen und in ihrer unglaublichen Vielfalt miteinander verkehren konnten[1] Seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und während des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts haben sich die Migrationserfahrungen ständig verändert, und zwar zwischen kurz- und langfristigen Projekten, einzelnen Personen und ganzen Familien. Gleichzeitig hat die Migration von Flüchtlingen und Asylbewerbern im Vergleich zur Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg neue Dimensionen angenommen: Aufgrund ethnischer Konflikte auf dem afrikanischen Kontinent, des Arabischen Frühlings im Mittelmeerraum und des Krieges in Syrien wurden ganze Völker auf tragische Weise zur Flucht gezwungen, auf der Suche nach einer neuen Heimat, nach Rettung und besseren Lebensbedingungen[2].

Migrations _ mediterranean

Der Schutz und die Aufnahme von Ausländern scheint nicht nur in unserem menschlichen Wesen, sondern auch in unserer europäischen und mediterranen Zivilisation selbst Tradition zu haben. Doch die traurige Erkenntnis, die sich in den Nachrichten immer wieder bestätigt, ist, dass Europa zunehmend die Erinnerung an seine Vergangenheit der großen überseeischen Migrationen verliert[3]. Viele Maßnahmen, die die EU-Länder in den letzten Jahren ergriffen haben, wurden im Gefolge nebulöser Informationen formuliert, in denen der Migrant als Gefahr, potenzieller Krimineller oder abzulehnende Person dargestellt wurde. Solche Maßnahmen werden sowohl durch Schwächen in der Gesetzgebung als auch durch internationale Abkommen begünstigt, die die Steuerung der Migrationsströme stillschweigend Diktaturen wie der Türkei oder Militärregimen wie Libyen überlassen. Die “Migrationskrise” – wie sie definiert wurde -, die den europäischen Kontinent in den letzten Jahren heimgesucht hat, hat die Schwierigkeiten und Widersprüche der Union deutlich gemacht, wenn es um die Verabschiedung eindeutiger Maßnahmen zwischen den Mitgliedstaaten geht. Meiner Meinung nach bringt sie uns vor allem dazu, über den Begriff “Grenze” nachzudenken und ihn neu zu überdenken, da er nicht mehr nur als territoriale Grenze verstanden wird, sondern im weiteren Sinne als klare Trennung zwischen “uns” und “ihnen”, als Grenze auf dem Weg zum Aufbau wirklich integrativer und inklusiver Gesellschaften. Gibt es ein Gleichgewicht zwischen menschlicher Solidarität und der Verpflichtung der Staaten, ihre Grenzen zu schützen? Angesichts des unermesslichen Leids und der Müdigkeit der Menschen, die sich auf eine solche Reise begeben, besteht für die Staaten die Pflicht, ihnen eine Aufnahme zu gewähren?[4]

 

Einerseits ist der Weltflüchtlingstag zweifellos eine bedeutende Errungenschaft, das Ergebnis der kollektiven Fähigkeit und Stärke all jener, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Eine Handlung, die außergewöhnlichen Mut und große Anstrengungen erfordert; die Fähigkeit, sich dem eigenen Schicksal zu stellen, ist eine Eigenschaft der Mutigsten. Das Verdienst der oben genannten Genfer Konvention, die auf dem Grundsatz der Nichtzurückweisung (non-refoulement) [5]beruht, bestand gerade darin, ein gemeinsames internationales Konzept für eine Institution zu schaffen, die zuvor auf staatlicher Ebene geregelt war. In diesem Sinne war die Erwartung groß, dass die im Entstehen begriffene EU auch im Bereich der Aufnahme und des Asyls eine proaktive Rolle spielen würde: Die Idee eines freien Raums ohne Binnengrenzen mit einem einheitlichen Asylkonzept hat langfristig zur Einführung gemeinsamer Standards für alle Bereiche des Asylantrags-, Bewertungs- und Ausstellungsverfahrens sowie für die Aufnahme, Integration, Bearbeitung und Verwaltung von politisch motivierten Migranten geführt. Zum Zeitpunkt der Übertragung der Zuständigkeit für den Asylbereich auf die EU waren die Mitgliedstaaten jedoch bereits durch völkerrechtliche Verpflichtungen gebunden und unterschieden sich in dieser Frage auf nationaler Ebene erheblich. Das europäische Recht hat zwar die Kodifizierung eines bereits bestehenden Rechtsbestands ermöglicht, gleichzeitig aber auch die nationalen Unterschiede verschärft. Auf normativer Ebene hat die EU deutliche Fortschritte erzielt: Nach dem Schlüsselprinzip der loyalen Zusammenarbeit hat sie sich bemüht, den Mitgliedstaaten ein gemeinsames Instrumentarium an die Hand zu geben, mit dem sie ihren täglichen und operativen Bedürfnissen gerecht werden können (Einführung eines einheitlichen Verfahrens zur Prüfung von Anträgen, gemeinsame Datenbank mit Informationen über alle Herkunftsländer von Asylbewerbern, Schaffung einer einzigen gemeinsamen Modalität zur Lösung spezifischer Aufnahmeprobleme)[6].

Ich möchte mich hier jedoch nicht auf den rechtlichen Kontext konzentrieren, da ich der Meinung bin, dass dieser oft keine umfassende Auslegung von Flüchtlings- und Asylfragen bietet. Blickt man über die internationalen Verträge und Erklärungen hinaus, so stellt man fest, dass sich die europäische Antwort oft als unzureichend erwiesen hat, da sie auf die zunehmenden Migrationsströme mit einer Dialektik reagierte, die hauptsächlich mit den Begriffen Angst und Sicherheit zusammenhängt. Die Begriffe “Asyl” oder “Flüchtling” haben sich immer weiter von den Idealen der Solidarität und des Willkommens entfernt und sich dem persönlichen Schutz angenähert. Der vorherrschende Ansatz der Begrenzung der Ankünfte ist ein Beispiel dafür, wie ein Bereich, der nur von Entscheidungen aus humanitären und ethischen Gründen beherrscht werden sollte, zum Vorrecht der Politik und fehlgeleiteter Migrationspraktiken geworden ist, die fortwährend die Menschenrechte verletzen und zum Tod von Tausenden von Menschen führen. In dem Bestreben, die Anwesenheit von Ausländern in ihrem Land zu regeln und zu verringern, sind die einzelnen Staaten zunehmend dazu übergegangen, die europäischen Rechtsnormen zugunsten ihrer eigenen, oft sehr viel restriktiveren nationalen Gesetze zu reduzieren[7] – die nationalen Verfahren variieren nämlich auch je nach Herkunftsland der Flüchtlinge und deren Beziehung zum Aufnahmeland (Schweden nimmt beispielsweise 80 % der irakischen Flüchtlinge auf, während Großbritannien zur Zeit der Union nur 13 % aufnimmt)[8]. Die Unfähigkeit, kohärente und koordinierte Maßnahmen festzulegen, hat die nationalen Regierungen dazu veranlasst, die Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern wieder aufzunehmen, um die Migrationsströme einzudämmen: Vorreiter dieser neuen Strategie war die Türkei[9], die zum Schlüsselland bei der Eindämmung des Exodus syrischer Bürger zu den griechischen Inseln wurde. Der deutliche Rückgang der Ankünfte hat das Land zu einem Referenzmodell für die Beziehungen zu den Herkunfts- und Transitländern der zentralen Mittelmeerroute, insbesondere zu Niger und Libyen, gemacht[10]. Auch im Hinblick auf die Arbeit der NRO scheint der vorherrschende Ansatz darin zu bestehen, ihre Arbeit zu begrenzen, anstatt sie als eine Ressource zu betrachten, auf die man sich verlassen kann. Obwohl die Europäische Kommission im September 2020 zu einer stärkeren Koordinierung und Unterstützung durch die Mitgliedstaaten aufrief, wurden die Such- und Rettungsmaßnahmen weiterhin durch Verwaltungs- oder Strafverfahren und Obstruktionspolitik behindert, und es wurden keine zusätzlichen Schiffe oder Ressourcen speziell für Rettungsmaßnahmen entlang der wichtigsten Migrationsrouten eingesetzt. Die Ausbreitung der Pandemie und die sich daraus ergebenden restriktiven Maßnahmen haben die Entsendung von Schiffen weiter behindert, wenn nicht gar unmöglich gemacht[11]. Die Gesamtsituation ist nach wie vor sehr besorgniserregend und äußerst bedauerlich: Allein im Jahr 2020 wurden auf der zentralen Mittelmeerroute mehr als 2600 Todesfälle verzeichnet: Der schrittweise Rückzug von Schiffen aus dem Mittelmeer, die zunehmenden Hindernisse für die Rettungsaktivitäten der NRO, die Entscheidungen, die Ausschiffung zu verzögern, und die Nichtzuweisung sicherer Häfen haben die Integrität und Effizienz des Rettungssystems eindeutig in Frage gestellt.

Migrations in refugee camps

Wir erleben, um Don Luigi Ciotti zu zitieren, ein regelrechtes Ausbluten der Menschlichkeit, bedauerliche Taten, mit denen Europa – die Wiege der Menschenrechte und der Demokratie – eines Tages fertig werden muss[12]. Die unmittelbare Aufgabe Europas muss es sein, Menschen in Not zu schützen und dabei ein Bündel kohärenter Maßnahmen und Politiken als nützliches Instrument zur Erfüllung seiner internationalen Verpflichtungen und ethischen Pflichten einzusetzen. Nur wenn die Union nach den Grundsätzen der Solidarität und der gemeinsamen Verantwortung arbeitet, kann sie auch weiterhin ein solider Zufluchtsort für diejenigen sein, die Verfolgung fürchten, und ein attraktives Ziel für talentierte und unternehmungslustige Arbeitnehmer, Studenten und Forschert[13]. Damit diese internationale Verantwortung wirksam wahrgenommen werden kann, muss zunächst die Dialektik geändert werden, mit der wir die Welt lesen: Der Einwanderer ist nicht der Feind, sondern das Opfer. Wenn es stimmt, dass es in der Geschichte der Menschheit schon immer Migrationsbewegungen gegeben hat, dann ist es auch wahr, dass die Spitzenwerte der letzten Jahre auf ein politisches und wirtschaftliches System zurückzuführen sind, das zermürbende Ungleichheiten, die Ausbeutung ganzer Regionen der Erde und Kriege um die ausschließliche Aneignung von Rohstoffen hervorgebracht hat und dadurch Millionen von Menschen zur Flucht gezwungen hat. Was eingedämmt werden muss, ist die Logik des Profits, die einem zutiefst ungerechten wirtschaftlichen und politischen System stillschweigend zugrunde liegt. Die durch die Umweltzerstörung, die Ausbeutung lokaler Ressourcen und die verheerenden Auswirkungen der globalen Erwärmung ausgelösten Zwangsmigrationen sind offensichtliche Formen der Menschenrechtsverletzung und der Zentralisierung von Macht. Diese Aspekte sind nicht nur eng miteinander verknüpft, sondern fördern auch ein Entwicklungsmodell, das in gefährlicher Weise die ökologischen Grenzen des Planeten sowie die Grenzen der menschlichen und sozialen Gerechtigkeit verletzt[14]. Man denke nur an das Phänomen, das leider als “Water Grabbing” bekannt ist und durch das mächtige wirtschaftliche und politische Akteure wertvolle Wasserressourcen kontrollieren oder zu ihrem eigenen Vorteil umleiten, indem sie sie lokalen Gemeinschaften oder ganzen Nationen wegnehmen, deren Lebensunterhalt auf eben diesen geplünderten Ökosystemen beruht; derzeit haben eine Milliarde Menschen auf der Welt keinen Zugang zu Trinkwasser, während 70 % der Erdoberfläche von Wüstenbildung bedroht sind. Ebenso wichtig sind die Auswirkungen der Agrar- und Ernährungsindustrie in Bezug auf die Ausbeutung der Wasserressourcen und die Landnahme in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Konflikte um natürliche Ressourcen und wertvolle Mineralien in der Zentralafrikanischen Republik, der Demokratischen Republik Kongo oder um Öl in Nigeria und im Südsudan sind für die größten Migrationswellen in der Region verantwortlich[15].Darüber hinaus sind Konflikte um natürliche Ressourcen und wertvolle Mineralien in der Zentralafrikanischen Republik, der Demokratischen Republik Kongo oder um Öl in Nigeria und im Südsudan für die größten Migrationswellen in der Region verantwortlich.

Den Preis für diese untergeordneten Machtverhältnisse und die daraus resultierende Schädigung des Ökosystems zahlen eindeutig die ärmsten Bevölkerungsgruppen, deren Überleben enger mit den kostenlosen Leistungen der Natur verknüpft ist und die stärker von Anfälligkeit, Entbehrung und Ungleichheit betroffen sind. Diese Logik zeigt deutlich, dass die wichtigsten strukturellen Krisen der Neuzeit, allen voran die Migration, das historische Produkt höchst ungleicher und ungerechter Produktions-, Konsum- und Machtverhältnisse sind; Dynamiken, auf die die Staaten mit einer Politik reagieren, die vor allem als nachträgliche und nicht als präventive Antwort verstanden werden kann und die einen unmenschlichen Krieg gegen diejenigen, die vor Kriegen oder unzumutbaren Lebensbedingungen fliehen, nur erleichtert. Mauern, Stacheldraht und befestigte Grenzen sind nicht nur äußerst unmenschlich, sondern vor allem nutzlos: Es gilt, Migration aus einer globalen Perspektive zu betrachten und zu analysieren, um Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, soziale und klimatische Ungleichgewichte wirklich abzubauen und sicherzustellen, dass jeder Mensch auf jedem Breitengrad und in jedem Teil der Welt ein freies und würdiges Leben führen kann.

 

Antonella Iavazzo

Von Davide Clemente auf Deutsch übersetzt

[1] https://www.iltascabile.com/societa/viaggio-migrante/

[2] https://legale.savethechildren.it/diritti-oltre-frontiera-riflessioni-tema-migrazioni-accoglienza-integrazione-stati-nazionali-unione-europea/

[3] https://rm.coe.int/una-richiesta-di-aiuto-per-i-diritti-umani-il-crescente-divario-nella-/1680a1dd0f

[4] https://legale.savethechildren.it/diritti-oltre-frontiera-riflessioni-tema-migrazioni-accoglienza-integrazione-stati-nazionali-unione-europea/

[5] Grundsatz der „Nichtzurückweisung“: Gemäß Artikel 33 kann ein Flüchtling weder an der Einreise gehindert noch abgeschoben, ausgewiesen oder in Gebiete überstellt werden, in denen sein Leben oder seine Freiheit bedroht wären

[6] https://www.assemblea.emr.it/europedirect/pace-e-diritti/archivio/i-diritti-umani-e-leuropa/2008/diritto-dasilo-come-funziona-nellue

[7] Denken Sie an das “Asylpaket”, das 2015 in Deutschland eingeführt wurde und für die Verschlechterung der Situation von Asylbewerbern auf nationaler Ebene verantwortlich ist: Länder wie Albanien, Montenegro und Kosovo wurden in die Liste der “sicheren Länder” aufgenommen, was dazu führte, dass Personen aus diesen Ländern keinen internationalen Schutz beantragen konnten; es wurden Beschränkungen für direkte Geldtransfers an Asylbewerber eingeführt und Aufnahmeplätze weiter reduziert. Auch 2019 hat Frankreich die Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen und Asylbewerbern stark eingeschränkt, weitere Beschränkungen für die Verlängerung von Visa verhängt und die Räumung von Migrantenlagern in Paris angeordnet.

[8] Ibid.

[9] Die Türkei hat zugesagt, rund drei Millionen syrischen Staatsbürgern Aufnahme und Schutz zu gewähren, wenn die EU-Mitgliedstaaten im Gegenzug umfangreiche Mittel bereitstellen und die Verhandlungen über das Abkommen zur Visaliberalisierung für türkische Staatsbürger freigeben.

[10] http://documenti.camera.it/leg18/dossier/pdf/AT029.pdf

[11] http://documenti.camera.it/leg18/dossier/pdf/AT029.pdf

[12] https://www.libera.it/schede-666-immigrati_e_accoglienza_non_e_questione_di_sicurezza_o_di_ordine_pubblico

[13] https://unipd-centrodirittiumani.it/it/schede/I-presupposti-per-la-creazione-del-Sistema-Comune-Europeo-di-Asilo/237#:~:text=Sebbene%20i%20trattati%20sull’Unione,28%2D38).

[14] https://www.canaleenergia.com/rubriche/scenari-dati-di-mercato-indagini-del-settoredossier-e-report/nellera-del-capitalocene-le-migrazioni-sono-frutto-del-cambiamento-climatico-di-origine-antropica/

[15] Ibid.

Wie Mehrsprachigkeit unsere Identität bereichert.

Seit unseren Schulzeiten, vielleicht während des Englisch-, Französisch- oder Spanischunterrichts, hören wir immer wieder, dass wir uns durch die Mehrsprachigkeit viel besser für die Welt und ihre Möglichkeiten öffnen können. Das ist, bestimmt, keine Erfindung der letzten Jahrzehnte. Goethe schrieb bereits 1821: „Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen“.[1]

Aber abgesehen von den Aphorismen: Macht uns das Erlernen anderer Sprachen im Alltag tatsächlich zu anderen Menschen? Wird unsere Identität, d.h. die Art und Weise, wie wir uns selbst sehen und erzählen, durch unsere Erfahrungen mit anderen Sprachen beeinflusst?

Um zu verstehen, wie Mehrsprachigkeit in die Erweiterung der persönlichen Identität hineinwirkt, finde ich es erstens sinnvoll, einige sozialpsychologische Studien zur Identitätskonstruktion vorzustellen, damit dann der Einfluss der Mehrsprachigkeit auf die Identität des Menschen erklärt werden kann.

 

Plurilingualism and identity - Erik Erikson and George Mead
Erik Erikson and George Mead

Mehrsprachigkeit in der Identitätsforschung

Obwohl das Wort identitas bereits im Spätlateinischen vorkam,[2] wurde die Identität im heutigen Sinne erst seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts erforscht. Zu den ersten Wissenschaftlern, die sich mit diesem Thema beschäftigt haben, gehörte der deutsch-amerikanische Forscher Erik Erikson. Erikson feststellte, dass unsere innerste Identität (die er “ego-identity” nannte) aus dem Versuch entstehe, Kontinuität und Kohärenz in unserem Leben zu finden. Wir schaffen uns also eine Identität, um uns definieren und die schicksalhafte Frage beantworten zu können: “Wer bin ich?”.[3]

Ein anderer Wissenschaftler namens George Mead hat jedoch beobachtet, wie im Laufe unserer Entwicklung, insbesondere während und nach der Kindheit, die Kommunikation und die Beziehung zu anderen Menschen die Grundlage für die Entwicklung unserer persönlichen Identität sei. Im frühen Alter finden nämlich durch das Spiel mit anderen Kindern die ersten Begegnungen mit dem Anderen statt: Durch Rollenspiele (z.B. Mutter, Polizistin, Lehrer) probieren Kinder eine Reihe von sozialen Rollen aus, die ihnen mit der Zeit helfen werden, eine eigene Vorstellung von sich selbst aufzubauen. Also, Spielen ist nach Mead ein notwendiger Schritt, um uns selbst kennen zu können.[4][5]

Sowohl Spiel als auch Dialog können allerdings ohne Kommunikation gar nicht erfolgen. Sprache ist ein unvermeidliches Mittel der Interaktion und damit grundlegend für die Konstruktion unserer Identität. Wenn ohne Sprache schwierig ist, sich zu verständigen, ist der Gebrauch von Sprache ebenso nötig, um uns selbst zu beschreiben und anderen von uns zu erzählen.

In dieser Hinsicht hat der deutsche Sozialpsychologe Heiner Keupp (mit einem großen Team von anderen Wissenschaftlern) das Phänomen der Selbsterzählung akribisch untersucht. Keupp vergleicht die Konstruktion unserer Identitäten mit einem Patchwork: Wir nähen und flicken die gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen Erfahrungen unseres Lebens, indem wir sie erzählen.[6] Das heißt, wir konstruieren unsere eigene Identität und teilen sie anderen mit. Ohne Sprache könnten wir allerdings die Idee, die wir von uns selbst haben und die wir im Laufe der Zeit so sorgfältig konstruieren und auflösen, weder flechten noch vermitteln.

Was, wenn Menschen mehrere Sprachen können?

Ausgegangen davon, dass die Sprache eine fundamentale Rolle bei der Konstruktion der kulturellen Identität spielt, was passiert hingegen unserer Identität, wenn wir mehrere Sprachen sprechen und sie in unser Leben integrieren? Das heißt, wie wirkt die Mehrsprachigkeit auf unsere Identität aus?

Die Forscherin Bonny Norton hat sich mit der Analyse des Erlernens der Sprache des Ankunftslandes durch Migranten beschäftigt. In ihrer Studie hat sie beschlossen, dass eine neue Sprache zu erwerben nicht nur bedeutet, sich mit denjenigen austauschen zu können, die diese Sprache alltäglich sprechen. Das Erlernen einer Fremdsprache impliziert auch und vor allem eine neue Organisation der Art und Weise, wie man sich selbst sieht, und eine neue soziale Beziehung zur Welt.[7] Mit anderen Worten, glaubt Norton, dass wir beim Erwerben einer Sprache unsere Art zu kommunizieren, unsere Beziehung zu anderen ebenso wie zu uns selbst neu gestalten: neue Normen, neue Klänge, neue Schönheit, neue Wege, uns auszudrücken, willkommen heißen.[8]

Nach Auffassung eines anderen Forschers, Peter Ecke, kommt die Mehrsprachigkeit dagegen nicht ohne Kosten. In mehreren empirischen Studien hat er tatsächlich gezeigt, wie der Erwerb einer zweiten Sprache, wenn sie viel mehr geübt wird als die Muttersprache, die Beherrschung der ersten benachteiligen kann. Das heißt, die zweite kann manchmal den Platz der ersten Sprache “besetzen” und ihren Gebrauch einschränken, so dass sie schließlich in die Rolle einer untergeordneten Sprache gedrängt wird.[9]

Im Gegensatz dazu kann allerdings unser sprachliches Profil aus einer reinen Identitätsperspektive von der Mehrsprachigkeit nur profitieren. Die kroatische Forscherin Marijana Kresić geht tatsächlich davon aus, dass jedes Individuum eine sprachliche Identität hat, die aus einem Netzwerk von Sprachen und Registern besteht, die sich überschneiden und aufeinander beziehen. So bezeichnet sie sich selbst als “Linguistin (besonders aktiv in Deutsch), Mutter, kroatische Muttersprachlerin, Anglistin, Fußball-Fan und Chatterin”.[10] Jede soziale Rolle, mit der sich die Wissenschaftlerin identifiziert, wird mit einer sprachlichen Varietät, einem bestimmten Register oder einer spezifische Sprache verbunden. Das Ergebnis ist, dass sich die sprachliche Identität jedes Einzelnen aus einem Zusammennähen unserer verschiedenen sozialen Rollen ergibt, die jeweils mit einem bestimmten Jargon, Register oder einer Sprache verbunden sind.[11]

All dies führt zu einer präzisen Schlussfolgerung. Obwohl Eckes Studien die Gefahr betonen, dass monolinguale Sprecher im Gebrauch ihrer Muttersprache schneller und fähiger sein könnten als Bilinguale, die diese vernachlässigen, wird die Identität des Mehrsprachigen auf jeden Fall durch sein hybrides und komplexes sprachlich-soziales Profil bereichert. Der Hauptgrund dafür ist, dass der Mehrsprachige über ein viel breiteres Netzwerk von sprachlichen Varietäten verfügt als das, das von einsprachigen Sprechern aufgebaut wird. Anders gesagt, mit dem Erwerb und der Ausübung neuer Sprachen identifiziert man sich also mit neuen und zahlreicheren sozialen Rollen, mit denen man ein breiteres Spektrum seiner selbst erhalten kann.

Von David Pappalardo geschrieben und auf Deutsch übersetzt.

[1] Goethe, Johann Wolfgang. Aus »Kunst und Altertum«. Dritten Bandes erstes Heft. 1821. In: Goethe J. W., Seidel Siegfried (hg.), Maximen und Reflexionen. Berlin: Holzinger, 2016.

[2] https://www.dwds.de/wb/etymwb/Identit%C3%A4t

[3] Erikson, Erik Homburger. Identity and the Life Cycle. New York/London: W. W. Norton & Company, 1994 (1959), S. 22.

[4] Mead, George Herbert, Morris Charles W. (hg.). Mind, Self and Society: from the Standpoint of a Social Behaviorist. Chicago: University of Chicago Press, 2005 (1934), S. 135.

[5] Ebd., S. 150.

[6] Keupp, Heiner et al., Identitätskonstruktionen. Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch, 2006 (1999), SS. 207-208.

[7] Norton, Bonny. Identity and Language Learning. Extending the Conversation. Bristol/Buffalo/Toronto: Multilingual Matters, 2013, S. 4.

[8] Abendroth-Timmer, Dagmar. Hennig Eva-Maria. Introduction Plurilingualism and Multiliteracies: Identity Construction in Language Education. In: Abendroth-Timmer D., Hennig E.M. (hg.), Plurilingualism and Multiliteracies. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2014, S. 28.

[9] Ecke, Peter. Die Kosten der Mehrsprachigkeit: Zeit und Fehler bei der Wortfindung. In: „Babylonia“, Ausgabe II, 2008, SS. 29-30.

[10] Kresić, Marijana. Sprache, Sprechen und Identität. Studien zur sprachlich-medialen Konstruktion des Selbst. München: Iudicum, 2006, S. 225.

[11] Ebd., SS. 227-228.

Ungleichheit zwischen den Geschlechtern in der Beschäftigung in Europa

Die Ungleichheit in der Beschäftigung wird nicht so sehr diskutiert wie die Lohnungleichheit, aber sie ist dennoch ein entscheidendes Thema für den wirtschaftlichen Aufschwung der Länder der Europäischen Union (EU) und für die Fortsetzung des Weges der Geschlechterrechte, der vor mehr als einem Jahrhundert von den Suffragetten eingeschlagen wurde[1][1].

Bezahlte Arbeit ist das Emanzipationsmittel schlechthin und spielt eine Schlüsselrolle bei der Definition einer Person, die sie frei macht, selbst zu bestimmen. Die Übernahme von häuslichen Aufgaben und die Pflege anderer Menschen sollte auf einer Wahl beruhen, die frei von jeder Einschränkung ist, sei sie kultureller, sozialer oder wirtschaftlicher Art. Darüber hinaus sollten die Rolle und die Bedeutung der Fürsorge für die Schwächsten, Kinder, Alte und Behinderte, nicht nur informell, sondern im System anerkannt werden.

Die Anwesenheit von Frauen auf dem Arbeitsmarkt einzuschränken bedeutet, Talente, Fähigkeiten und Kenntnisse einzuschränken, die dem produktiven Teil eines Landes zur Verfügung stehen. Eine Eurofound-Studie aus dem Jahr 2017 schätzt den wirtschaftlichen Verlust aufgrund der Beschäftigungslücke in der EU auf mehr als 370 Milliarden Euro [2]. Die Analyse zeigt auch, wie groß die Heterogenität zwischen den verschiedenen europäischen Ländern ist: Für Malta beträgt der prozentuale Verlust des Bruttoinlandsprodukts (BIP) pro Jahr 8,2 %, für Italien 5,7 % und für Griechenland 5 %, während am anderen Ende des Spektrums Schweden und Litauen mit Verlusten von weniger als 1,5 % des BIP liegen.

Ungleichheit in Europa
Eurofound (2016), The gender employment gap: Challenges and solutions, Publications Office of the European Union, Luxembourg.

Unter Verwendung der neuesten verfügbaren Eurostat-Daten (2019), also vor dem Coronavirus[2] liegt der Fokus dieses Artikels auf den sechs bevölkerungsreichsten EU-Ländern: Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Polen und Rumänien. Die folgende Grafik zeigt das Problem innerhalb der EU und in den sechs genannten Ländern. Die Beschäftigungsquote für Frauen ist in grün dargestellt, die Beschäftigungsquote für Männer in blau. Das gestrichelte Rechteck zeigt den Unterschied in Prozentpunkten zwischen der Beschäftigung von Männern und Frauen.

Ungleichheit zwischen den Geschlechtern in der Beschäftigung in Europa
Daten zur Beschäftigung nach Geschlecht in der Altersgruppe 20-64 Jahre im Jahr 2019 in Werten und Prozentpunkten (pp) Quelle: Eurostat und Berechnungen des Autors

Besonders deutlich ist die Beschäftigungslücke in Polen, Rumänien und vor allem in Italien – dort ist fast jede zweite Frau im Alter von 20 bis 64 Jahren nicht erwerbstätig. Nichtsdestotrotz ist die Kluft auch auf dem spanischen Arbeitsmarkt deutlich sichtbar, wo der Abstand fast 12 Prozentpunkte beträgt und damit den EU-Durchschnitt von 11,4 übertrifft.

Die Bedeutung von Maßnahmen zur Beseitigung der geschlechtsspezifischen Beschäftigungsunterschiede.

Das geschlechtsspezifische Beschäftigungsgefälle ist Ausdruck eines langjährigen patriarchalischen Erbes. Um dies zu ändern, ist ein kultureller Paradigmenwechsel erforderlich, begleitet von Reformen zur Beseitigung der geschlechtsspezifischen Beschäftigungslücke. Werfen wir einen Blick auf einige der von Frankreich und Deutschland eingeführten Maßnahmen zur Förderung der Frauenerwerbstätigkeit.

FR – Chèque emploi service universel: ein 2006 eingeführtes System von Gutscheinen zur Bezahlung von Hausangestellten und Kinderbetreuern, unabhängig davon, ob sie von einer Agentur oder einem Dritten beschäftigt werden. Der Gutschein vereinfacht das Verfahren zur Einstellung, Bezahlung und Regulierung dieser Personen und kombiniert zudem einen steuerlichen Anreiz (Ausgaben sind absetzbar) und Kofinanzierungsmöglichkeiten[3][3].

DE – Perspektive Wiedereinstieg: ein Förderprogramm für Frauen, die aus familiären Gründen länger als drei Jahre aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind. Es bietet professionelle Unterstützung – sowohl telematisch als auch persönlich – sowie Schulungen und steuerliche Anreize für Arbeitgeber[4].

FR – Complémente de libre choix du mode de garde: Ein finanzieller Ausgleich, der einen Teil der Kosten für die Kinderbetreuung für Kinder bis zu sechs Jahren decken soll [5].

DE – Elterngeld: Ein Betrag, auf den Eltern Anspruch haben, wenn sie im ersten Lebensjahr des Kindes ihre Arbeitszeit auf weniger als 30 Stunden pro Woche reduzieren. Der Zuschuss entspricht dem Gehalt des Elternteils, wenn das Kind weiterhin Vollzeit arbeiten würde. Mit verschiedenen Methoden können auch Studenten und Arbeitslose profitieren [6].

DE – Pflegezeitgesetz und Familienpflegezeitgesetz: eine gesetzliche Regelung, die es Arbeitnehmern ermöglicht, unbezahlten Urlaub zu nehmen, um unmittelbare Familienangehörige zu pflegen. Der Urlaub kann kurz -von 10 Tagen- oder lang -mit einer Reduzierung der Arbeitszeit bis zu einem Maximum von 15 pro Woche für bis zu zwei Jahre- sein [7].

FR – La Charte de la Paternité en Enterprise: eine Absichtserklärung, die – auf freiwilliger Basis – von Unternehmen unterzeichnet wird, die sich für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ihrer Mitarbeiter einsetzen wollen. Ziel ist es, mehr Flexibilität bei den Arbeitszeiten zu gewährleisten und ein Umfeld zu schaffen, das auf Mitarbeiter mit Kindern Rücksicht nimmt und gleichzeitig das Prinzip der Nicht-Diskriminierung bei der beruflichen Entwicklung derjenigen, die Kinder haben, respektiert [8].

Ich denke, es ist wichtig, zwei wiederkehrende Elemente in den oben aufgeführten Richtlinien hervorzuheben. Der erste ist der Aspekt der Flexibilität: Die Belastungen und Vorteile für Unternehmen und Arbeitnehmerinnen werden von Fall zu Fall moduliert und ändern sich, wenn sich die Situationen ändern. In der Tat können zu starre Auflagen Arbeitgeber negativ beeinflussen, die möglicherweise dazu neigen, lieber einen Mann als eine Frau einzustellen. Betrachten wir zum Beispiel den Fall des obligatorischen Mutterschaftsurlaubs: In Frankreich und Deutschland beträgt dieser 16 bzw. 14 Wochen, in Italien dagegen 21 [9] [10]. Das zweite Element ist das der Inklusion: Fast alle der oben aufgeführten Maßnahmen richten sich nicht ausschließlich an Frauen, sondern es wird im Gegenteil versucht, nicht aufgrund des Geschlechts zu diskriminieren. Um auf das Beispiel des Mutterschaftsurlaubs zurückzukommen: Eine Verkürzung des Mutterschaftsurlaubs in Ländern, in denen er sehr lang ist, sollte mit einer Verlängerung des Vaterschaftsurlaubs einhergehen. Diesbezüglich passen sich Italien und Rumänien den Forderungen der Europäischen Kommission an und erreichen den europäischen Mindeststandard von zehn Tagen.

Schließlich ist ein weiterer wichtiger Aspekt einiger der oben genannten Maßnahmen die Senkung der Kosten für die Kinderbetreuung: Dies verringert den Anreiz für den Partner mit dem niedrigsten Gehalt (was oft der Frau entspricht), mit den Kindern zu Hause zu bleiben, um nicht die Kosten für Kinderkrippen, Sommerzentren und alle Kinderbetreuungsdienste zu tragen. Außerdem wirken sich diese Maßnahmen positiv auf die Geburtenrate aus, ein Problem, das in vielen europäischen Ländern zu finden ist (Frankreich ausgenommen[4]).

Das Bildungsniveau in der Beschäftigungsquote von Frauen

Ein wichtiger Indikator für die Beschäftigungsquote ist das Bildungsniveau. Tatsächlich ist in allen sechs untersuchten Ländern das Bildungsniveau einer der entscheidenden Faktoren für die Erwartung einer Beschäftigung.

Nachfolgend sind die Beschäftigungsquoten für Frauen im Alter von 20 bis 34 Jahren nach Bildungsniveau aufgeführt, wobei Niedrig ein niedriges Niveau angibt, das der Pflichtschul- oder Unterstufe entspricht, Mittel ein mittleres Niveau mit einem High-School-Diplom und Hoch ein hohes Niveau, das einer Universität oder einem Postgraduiertenabschluss entspricht.

Beschäftigungsquote der Frauen nach Bildungsniveau
Beschäftigungsquote der Frauen nach Bildungsniveau, Alterskohorte 20-34, Jahr 2019, %-Wert Quelle Eurostat

Die Abbildung zeigt, dass ein hohes Bildungsniveau mit einer höheren Beschäftigungsquote verbunden ist. Besonders deutlich wird dies in Polen, wo sich die Beschäftigungsquote zwischen Frauen mit niedrigem und mit hohem Bildungsniveau um 60 Prozentpunkte verändert. In Deutschland hingegen liegt die Beschäftigungsquote von Personen mit einem Sekundarschulabschluss sehr nahe an der von Personen mit einem Hochschulabschluss. Diese Besonderheit ist wahrscheinlich auf die starke Präsenz von höheren technischen Instituten zurückzuführen, die bereits im zweiten Studienzyklus auf die Arbeitswelt vorbereiten.

Bildungsanreize sind daher auch ein nützliches Instrument, um die Kluft zwischen den Geschlechtern auf dem Arbeitsmarkt zu überbrücken. Länder wie Rumänien und Italien – mit einer Beschäftigungslücke von mehr als 19 Prozentpunkten – könnten also von positiven Effekten auf dem Arbeitsmarkt profitieren, wenn sie mehr Anreize für eine Hochschulausbildung von Frauen schaffen.

Die folgende Grafik zeigt den prozentualen Anteil der Hochschulabsolventen an der Bevölkerung der sechs betrachteten Länder: Interessant ist, dass – mit Ausnahme von Deutschland – Mädchen eher dazu neigen, auch den letzten Studienzyklus zu beenden[5].

Anteil der Bevölkerung mit tertiärem Bildungsabschluss nach Geschlecht, Alter 15-64, Jahr 2019, Werte in %. Quelle: Eurostat und Berechnungen des Autors

Beschäftigungsungleichheit und die Rolle der Frauen in den EU-Plänen

Die Wiederbelebung der Europäischen Union sollte auch über die Frauen und eine erneute Anerkennung ihrer Rolle in der Gesellschaft gehen. Das zu tun, wäre nicht nur richtig, sondern auch notwendig. Aus diesem Grund haben die europäischen Institutionen beschlossen, alle Mittel des Mehrjahresbudgets und der Next Generation EU, die für den Klimaschutz und die Anpassung an den Klimawandel bestimmt sind (ein Anteil von 30 % der Gesamtsumme, was etwa 547 Milliarden Euro entspricht), für geschlechtergerechte Projekte zu verwenden. Damit ist die Richtung für die Zukunft vorgegeben: ein Übergang zu ökologischer Nachhaltigkeit frei von geschlechtsspezifischen Diskriminierungen [12].

Trotz der klaren Haltung der EU gibt es diejenigen, die mehr erwartet haben: Alexandra Geese, MdEP für die Grünen/EFA, hat eine Petition gestartet, in der sie fordert, dass auch die Mittel, die für die Digitalisierung vorgesehen sind, sich auf Frauen und ihre Rechte konzentrieren sollten und damit die Hälfte der Gesamtausgaben des Next Generation EU-Pakets erreichen. Der Vorschlag mag unverhältnismäßig erscheinen, aber angesichts des Ausmaßes der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern auf dem Arbeitsmarkt ist er es vielleicht gar nicht so sehr.

Giovanni Sgaravatti

Von Davide Clemente auf Deutsch übersetzt

Verweisen:

[1] Bewegungen der Frauenemanzipation und die Forderung nach dem Wahlrecht erschienen wie ein Lauffeuer auf der ganzen Welt gegen Ende der 1800er und Anfang der 1900er Jahre, wenn auch schon unmittelbar nach der Französischen Revolution (1791). Olympe de Gouges verfasste die Erklärung der Rechte der Frauen und Bürgerinnen, in der sie die politische und soziale Gleichstellung von Männern und Frauen erklärte. [1]

[2] Laut neueren Studien wird sich die Beschäftigungslücke in einigen Industrieländern nach der Krise noch vergrößern. Dies liegt daran, dass die Frau häufiger der Partner mit dem geringsten Einkommen ist, der sich deshalb entscheidet, seine Arbeit aufzugeben, um sich während der Schulschließungen um die Kinder zu kümmern. Darüber hinaus ist in einigen Ländern die Beschäftigung von Frauen in den am stärksten betroffenen Sektoren, wie z. B. im Einzelhandel und in der Gastronomie, höher [4], [5].

[3] Auch in Italien gibt es ein ähnliches Instrument, aber leider scheint es nicht die erhofften Resultate zu bringen [3b].

[4] Im Jahr 2018 hatte Frankreich eine Fertilitätsrate von 1,88 Kindern pro Frau, verglichen mit 1,29 in Italien [11].

[5] Das Phänomen ist in Deutschland auch in der jüngeren Bevölkerung zwischen 20 und 34 Jahren vorhanden.

Quellen

[1] Dai primitivi al post-moderno: tre percorsi di saggi storico-antropologici, von Vittorio Lanternari, Liguori Editore, 351

[2] Eurofound: The gender employment gap: Challenges and solutions, Luxembourg 2016, Publications Office of the European Union.

[3] Le Cesu, qu’est-ce que c’est

[3b] Gelegenheitsarbeitsdienste: Familienheft (auf Italienisch)

[4] Perspektive Wiedereinstieg: Startseite

[5]https://www.service-public.fr/particuliers/vosdroits/F345#:~:text=Le%20compl%C3%A9ment%20de%20libre%20choix,votre%20enfant%20et%20vos%20ressources.

[6]Elterngeld und ElterngeldPlus

[7] https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/gesetze/gesetz-zur-besseren-vereinbarkeit-von-familie–pflege-und-beruf-/78226#:~:text=Angeh%C3%B6rige%20zu%20betreuen.-,Familienpflegezeitgesetz,Angeh%C3%B6rigen%20in%20h%C3%A4uslicher%20Umgebung%20pflegen.

[8] https://www.observatoire-qvt.com/charte-de-la-parentalite/presentation/#:~:text=La%20Charte%20de%20la%20Parentalit%C3%A9%20en%20Entreprise%20a%20%C3%A9t%C3%A9%20initi%C3%A9e,mieux%20adapt%C3%A9%20aux%20responsabilit%C3%A9s%20familiales.

[9] COVID-19 and the gender gap in advanced economies | VOX, CEPR Policy Portal

[10] 98% derjenigen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, sind Frauen, Covid ist auch eine Geschlechterfrage (artikel auf Italienisch)

[10b]  (Beschäftigte und Arbeitslose (vorläufige Daten) (auf Italienisch)

[11] File:Total fertility rate, 1960–2018 (live births per woman).png – Statistics Explained

[12] The 2021-2027 EU budget – What’s new? | European Commission

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