Wie Mehrsprachigkeit unsere Identität bereichert.

Seit unseren Schulzeiten, vielleicht während des Englisch-, Französisch- oder Spanischunterrichts, hören wir immer wieder, dass wir uns durch die Mehrsprachigkeit viel besser für die Welt und ihre Möglichkeiten öffnen können. Das ist, bestimmt, keine Erfindung der letzten Jahrzehnte. Goethe schrieb bereits 1821: „Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen“.[1]

Aber abgesehen von den Aphorismen: Macht uns das Erlernen anderer Sprachen im Alltag tatsächlich zu anderen Menschen? Wird unsere Identität, d.h. die Art und Weise, wie wir uns selbst sehen und erzählen, durch unsere Erfahrungen mit anderen Sprachen beeinflusst?

Um zu verstehen, wie Mehrsprachigkeit in die Erweiterung der persönlichen Identität hineinwirkt, finde ich es erstens sinnvoll, einige sozialpsychologische Studien zur Identitätskonstruktion vorzustellen, damit dann der Einfluss der Mehrsprachigkeit auf die Identität des Menschen erklärt werden kann.

 

Plurilingualism and identity - Erik Erikson and George Mead
Erik Erikson and George Mead

Mehrsprachigkeit in der Identitätsforschung

Obwohl das Wort identitas bereits im Spätlateinischen vorkam,[2] wurde die Identität im heutigen Sinne erst seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts erforscht. Zu den ersten Wissenschaftlern, die sich mit diesem Thema beschäftigt haben, gehörte der deutsch-amerikanische Forscher Erik Erikson. Erikson feststellte, dass unsere innerste Identität (die er “ego-identity” nannte) aus dem Versuch entstehe, Kontinuität und Kohärenz in unserem Leben zu finden. Wir schaffen uns also eine Identität, um uns definieren und die schicksalhafte Frage beantworten zu können: “Wer bin ich?”.[3]

Ein anderer Wissenschaftler namens George Mead hat jedoch beobachtet, wie im Laufe unserer Entwicklung, insbesondere während und nach der Kindheit, die Kommunikation und die Beziehung zu anderen Menschen die Grundlage für die Entwicklung unserer persönlichen Identität sei. Im frühen Alter finden nämlich durch das Spiel mit anderen Kindern die ersten Begegnungen mit dem Anderen statt: Durch Rollenspiele (z.B. Mutter, Polizistin, Lehrer) probieren Kinder eine Reihe von sozialen Rollen aus, die ihnen mit der Zeit helfen werden, eine eigene Vorstellung von sich selbst aufzubauen. Also, Spielen ist nach Mead ein notwendiger Schritt, um uns selbst kennen zu können.[4][5]

Sowohl Spiel als auch Dialog können allerdings ohne Kommunikation gar nicht erfolgen. Sprache ist ein unvermeidliches Mittel der Interaktion und damit grundlegend für die Konstruktion unserer Identität. Wenn ohne Sprache schwierig ist, sich zu verständigen, ist der Gebrauch von Sprache ebenso nötig, um uns selbst zu beschreiben und anderen von uns zu erzählen.

In dieser Hinsicht hat der deutsche Sozialpsychologe Heiner Keupp (mit einem großen Team von anderen Wissenschaftlern) das Phänomen der Selbsterzählung akribisch untersucht. Keupp vergleicht die Konstruktion unserer Identitäten mit einem Patchwork: Wir nähen und flicken die gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen Erfahrungen unseres Lebens, indem wir sie erzählen.[6] Das heißt, wir konstruieren unsere eigene Identität und teilen sie anderen mit. Ohne Sprache könnten wir allerdings die Idee, die wir von uns selbst haben und die wir im Laufe der Zeit so sorgfältig konstruieren und auflösen, weder flechten noch vermitteln.

Was, wenn Menschen mehrere Sprachen können?

Ausgegangen davon, dass die Sprache eine fundamentale Rolle bei der Konstruktion der kulturellen Identität spielt, was passiert hingegen unserer Identität, wenn wir mehrere Sprachen sprechen und sie in unser Leben integrieren? Das heißt, wie wirkt die Mehrsprachigkeit auf unsere Identität aus?

Die Forscherin Bonny Norton hat sich mit der Analyse des Erlernens der Sprache des Ankunftslandes durch Migranten beschäftigt. In ihrer Studie hat sie beschlossen, dass eine neue Sprache zu erwerben nicht nur bedeutet, sich mit denjenigen austauschen zu können, die diese Sprache alltäglich sprechen. Das Erlernen einer Fremdsprache impliziert auch und vor allem eine neue Organisation der Art und Weise, wie man sich selbst sieht, und eine neue soziale Beziehung zur Welt.[7] Mit anderen Worten, glaubt Norton, dass wir beim Erwerben einer Sprache unsere Art zu kommunizieren, unsere Beziehung zu anderen ebenso wie zu uns selbst neu gestalten: neue Normen, neue Klänge, neue Schönheit, neue Wege, uns auszudrücken, willkommen heißen.[8]

Nach Auffassung eines anderen Forschers, Peter Ecke, kommt die Mehrsprachigkeit dagegen nicht ohne Kosten. In mehreren empirischen Studien hat er tatsächlich gezeigt, wie der Erwerb einer zweiten Sprache, wenn sie viel mehr geübt wird als die Muttersprache, die Beherrschung der ersten benachteiligen kann. Das heißt, die zweite kann manchmal den Platz der ersten Sprache “besetzen” und ihren Gebrauch einschränken, so dass sie schließlich in die Rolle einer untergeordneten Sprache gedrängt wird.[9]

Im Gegensatz dazu kann allerdings unser sprachliches Profil aus einer reinen Identitätsperspektive von der Mehrsprachigkeit nur profitieren. Die kroatische Forscherin Marijana Kresić geht tatsächlich davon aus, dass jedes Individuum eine sprachliche Identität hat, die aus einem Netzwerk von Sprachen und Registern besteht, die sich überschneiden und aufeinander beziehen. So bezeichnet sie sich selbst als “Linguistin (besonders aktiv in Deutsch), Mutter, kroatische Muttersprachlerin, Anglistin, Fußball-Fan und Chatterin”.[10] Jede soziale Rolle, mit der sich die Wissenschaftlerin identifiziert, wird mit einer sprachlichen Varietät, einem bestimmten Register oder einer spezifische Sprache verbunden. Das Ergebnis ist, dass sich die sprachliche Identität jedes Einzelnen aus einem Zusammennähen unserer verschiedenen sozialen Rollen ergibt, die jeweils mit einem bestimmten Jargon, Register oder einer Sprache verbunden sind.[11]

All dies führt zu einer präzisen Schlussfolgerung. Obwohl Eckes Studien die Gefahr betonen, dass monolinguale Sprecher im Gebrauch ihrer Muttersprache schneller und fähiger sein könnten als Bilinguale, die diese vernachlässigen, wird die Identität des Mehrsprachigen auf jeden Fall durch sein hybrides und komplexes sprachlich-soziales Profil bereichert. Der Hauptgrund dafür ist, dass der Mehrsprachige über ein viel breiteres Netzwerk von sprachlichen Varietäten verfügt als das, das von einsprachigen Sprechern aufgebaut wird. Anders gesagt, mit dem Erwerb und der Ausübung neuer Sprachen identifiziert man sich also mit neuen und zahlreicheren sozialen Rollen, mit denen man ein breiteres Spektrum seiner selbst erhalten kann.

Von David Pappalardo geschrieben und auf Deutsch übersetzt.

[1] Goethe, Johann Wolfgang. Aus »Kunst und Altertum«. Dritten Bandes erstes Heft. 1821. In: Goethe J. W., Seidel Siegfried (hg.), Maximen und Reflexionen. Berlin: Holzinger, 2016.

[2] https://www.dwds.de/wb/etymwb/Identit%C3%A4t

[3] Erikson, Erik Homburger. Identity and the Life Cycle. New York/London: W. W. Norton & Company, 1994 (1959), S. 22.

[4] Mead, George Herbert, Morris Charles W. (hg.). Mind, Self and Society: from the Standpoint of a Social Behaviorist. Chicago: University of Chicago Press, 2005 (1934), S. 135.

[5] Ebd., S. 150.

[6] Keupp, Heiner et al., Identitätskonstruktionen. Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch, 2006 (1999), SS. 207-208.

[7] Norton, Bonny. Identity and Language Learning. Extending the Conversation. Bristol/Buffalo/Toronto: Multilingual Matters, 2013, S. 4.

[8] Abendroth-Timmer, Dagmar. Hennig Eva-Maria. Introduction Plurilingualism and Multiliteracies: Identity Construction in Language Education. In: Abendroth-Timmer D., Hennig E.M. (hg.), Plurilingualism and Multiliteracies. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2014, S. 28.

[9] Ecke, Peter. Die Kosten der Mehrsprachigkeit: Zeit und Fehler bei der Wortfindung. In: „Babylonia“, Ausgabe II, 2008, SS. 29-30.

[10] Kresić, Marijana. Sprache, Sprechen und Identität. Studien zur sprachlich-medialen Konstruktion des Selbst. München: Iudicum, 2006, S. 225.

[11] Ebd., SS. 227-228.

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